Der Geschmack der kleinen Tomaten

Nachwort vom Autor
Das erste, was ich vom Bruder Sui (Ching-Sui Hsu, in diesem Buch der Onkel der jungen Erzäh- lers) gesehen habe, waren seine Füße. Die Kamera folgte seinen schuhlosen Füßen einen Schritt nach dem anderem ins Gewächshaus hinein. Dann bewegte sich die Kamera langsam von den mit Schlamm bedeckten, schwieligen Sohlen hinauf bis zu seinen gelben Zähnen und dem herzlichen Lachen. Er erzählte begeistert von den Rosentomaten, die aus dem salzigen Boden wachsen.
Es war unvorstellbar, dass dieser einfache und schüchterne Mann, der jetzt so fleißig auf dem Feld arbeitet, einmal ein Drogensüchtiger und ein Glücksspieler war, ein schwarzes Schaf, das seiner Fa- milie Schande und Kummer bereitet hatte.
Meine Idee, ein Buch über ihn zu schreiben, entstand, als ich ihn in dieser Reportage im Fernse- hen gesehen habe. Ich war sehr bewegt und entschied mich, über den verlorenen Sohn zu schreiben.
Es ist sicher eine schöne Geschichte, dachte ich mir, aber meine journalistische Ausbildung lehrte mich, dass ich nicht alles glaube, was im Fernsehen erzählt wird, denn vieles kann mit der Kamera- technik nachgestellt werden. Ich war vorsichtig, also machte ich viele Recherchen, bevor ich tatsäch- lich Kontakt zu ihm aufnahm.
Am anderen Ende der Telefonleitung war eine schüchterne, zurückhaltende Stimme, dieselbe, die ich im Fernsehen gehört hatte. Ich erklärte ihm meine Absicht, dann diskutierten wir über den mög- lichen Schreibstil für seine Geschichte und dass ich es mir vorstellen konnte, diese als ein Kinderbil- derbuch zu verlegen. Seine Reaktion war einerseits entzückt, da er zu der Zeit gerade Vater geworden war, andererseits machte er sich Sorgen und fühlte sich unwohl, denn er war unsicher, ob er ein Vor-
bild für die Kinder sein kann.
„Naja, in Ordnung,“ stimmte er später selbstironisch zu, „wenn nicht als Vorbild, dann als Warnung. Die Kinder sollen von meiner Erfahrung lernen und nicht die glei- chen Fehler machen.“
Dennoch war der Schreibprozess nicht reibungslos, obwohl ich mit reichlichen Materialien unterstützt wurde. Ich be- arbeitete den Text mehrfach rauf und runter, aber es fehlte immer noch irgendetwas. Bis eines Tages eine Kiste mit kleinen Tomaten aus Yunlin an mich geliefert wurde, auf die eine Kurznachricht vom Bruder Sui folgte: „Wer über meine Geschichte schreiben möchte, muss meine Tomaten unbe- dingt einmal gegessen haben.“Mit dieser Kiste Tomaten und der Nachricht konnte ich endlich das Manuskript fertig schreiben. Ich habe nicht nur den Geschmack der Rosentomaten kennengelernt, sondern auch Bruder Shuis Wärme, Großzügigkeit und Bescheidenheit erkannt.Der Boden hat immer eine untrennbare Beziehung zur Kreation. Der Bauer kriegt aus grauer, matschiger Erde saftiges Grün und buntes Obst und Gemüse heraus; der Künstler überträgt die Landschaften durch seine magischen, pinselführenden Hän- de auf die Leinwand; und der Schriftsteller sammelt seine alltäglichen Beobachtungen und Reflexionen in herzbewegenden Geschichten.In meinem Land bin ich auch stets auf der Suche nach Geschichten, die den Kindern gefallen und Hoffnung bringen.